Warum könnte es diesmal anders sein, warum sollte sich Europa im Blockchain-Sektor gegenüber den USA und Asien behaupten können? Die Erfahrung spricht dagegen. Schließlich sind in allen großen Technologiebereichen andere Regionen führend. In der Plattformökonomie hat Europa nichts zu melden. Auch kommt keines der 100 größten Technologieunternehmen auf der Welt, mit der Ausnahme von SAP, aus Europa. Zumal das große Wagniskapital nicht hierzulande, sondern westlich oder östlich von uns ausgegeben wird. Dies legen auch die Bewertungen der Krypto-Unternehmen nahe. Zweistellige Milliardenbewertungen gibt es hierzulande nicht, sehr wohl aber in den USA, mit beispielsweise Coinbase oder OpenSea.
Wenn Europa schon nicht in puncto Geld und Innovation mithalten kann, wie können wir es dennoch schaffen, die Nr. 1 im Krypto-Sektor zu werden? Die Antwortet lautet: mit Regulierung. So absurd es klingen mag, könnte ein Aspekt, der uns in anderen Bereichen davon abhält, mit den USA und Asien konkurrieren zu können, diesmal zum Vorteil verhelfen.
USA und China scheitern an sich selbst
Die beste Innovation nützt nichts, wenn Staat und Gesellschaft noch nicht bereit für sie sind, oder noch einfacher: sie schlechtweg verboten wird. In China haben wir genau das mit dem Krypto-Sektor erlebt und die USA blamieren sich mit ihrem Krypto-Crackdown vor der Weltöffentlichkeit. Das Schmierentheater zwischen einzelnen US-Behörden, wie der SEC vs. CFTC, wird nur noch von der gesellschaftlichen Spaltung zwischen Demokraten und Republikanern übertroffen. Als neue Konfliktlinie ist nun auch Krypto hinzugekommen. Die Folge: Emotionen zählen mehr als Sachargumente.
Wenn man als Europäer in Sachen Krypto über den Atlantik schaut, kann man sich fast über die Brüsseler Bürokratie freuen. Trotz ihrer Behäbigkeit und ihrem Hang zur Überregulierung hat die Europäische Union mit der Markets in Crypto Asset Regulation, kurz MiCA, den umfassendsten Rechtsrahmen für die weltweite Kryptoregulierung geschaffen. Natürlich gibt es auch Nationen wie die Schweiz oder Singapur, die ebenfalls sehr progressiv unterwegs sind, allerdings handelt es sich dabei um doch sehr kleine Jurisdiktionen mit nur einem kleinen Binnenmarkt.
Krypto: Die USA haben am meisten zu verlieren
Die native Krypto-Bewegung ist dezentral und Open Source. Ebenjene Innovationsdynamik steht im Konflikt mit unserer gegenwärtigen Regulierungslogik, die zentral organisiert ist. Bei Gartenmöbeln und Fahrrädern mag der Aspekt der Regulatorik nur bedingt ins Gewicht fallen. Beim hochregulierten Finanzsektor sieht es hingegen ganz anders aus. Zahlreiche Institutionen auf der ganzen Welt, von Notenbanken, Aufsichtsbehörden bis hin zum Internationalen Währungsfonds, haben ein engmaschig reguliertes Finanzsystem etabliert.
Der größte Nutznießer der aktuellen Struktur sind die USA. Nicht nur stellen sie die Leitwährung, auch üben sie durch Unternehmen wie Mastercard oder PayPal sowie durch internationale Finanzinstitutionen wie Weltbank und IWF die größte Kontrolle über unser Finanzsystem aus. Die Krypto-Ökonomie gefährdet ebenjene Vormachtstellung. Sorgt die dezentrale Logik doch dafür, dass die Karten in Teilen neu gemischt werden und sich Machtstrukturen neu verschieben können.
Theoretisch hätte China aus diesem Grund ein Interesse, die Krypto-Ökonomie zu unterstützen, allerdings steht dem die autokratische Kontrollsucht der Kommunistischen Partei im Wege. Für den Kontrollverlust der Gegner ist man nicht bereit, auf eigene Kontrolle im Inland zu verzichten. China steckt in einer Zwickmühle.
Dialektik: Regulierung ist Innovation
Im Gegensatz zu den USA und China verfügt Europa nicht über den Anspruch, Weltmacht Nr. 1 zu sein – realpolitischen Ambitionen zum Trotz. Generell ist Europa mit seinen 27 Mitgliedsstaaten ein hohes Maß an Dezentralität gewöhnt. Der Zwang zum dezentralen Konsens steckt in der DNA Europas genauso wie das Primat der Umverteilung. Vor diesem Hintergrund wirkt die Blockchain-Technologie und mit ihr die MiCA-Regulierung wie ein Emanzipationsversuch des sonst schwerfälligen Bündnisses.
Die USA und Asien hingegen, mit allen voran China, schaffen es gegenwärtig nicht, ihre Stärken auszuspielen. Dieses “Window of Opportunity” gibt Europa und insbesondere der EU die Chance, führend in der Krypto-Ökonomie zu werden. Nicht wer zuerst “innoviert”, sondern wer zuerst “reguliert” schafft die Möglichkeit einer nachhaltigen Krypto-Etablierung in der Breite und einer nachfolgenden kommerziellen Innovationsdynamik.
Bereits heute ist Europa führend, wenn es um Banken geht, die gegenüber der Krypto-Ökonomie aufgeschlossen sind, beziehungsweise bereit sind, Geschäfte mit Kryptounternehmen zu machen. Was es nun braucht, ist eine Migrationsbewegung von der anderen Seite des Atlantiks. Dass sich unter anderem der Stablecoin-Herausgeber Circle für Paris als neuen Hauptsitz entschieden hat, ist ein erstes Zeichen in die richtige Richtung.
Innovation muss nicht in Europa entstehen
Zumal Innovation gar nicht ausschließlich vor Ort entstehen muss. Viel mehr kommt es darauf an, die weltweit generierte Innovation vor Ort durch Regulierung nutzbar zu machen. Schließlich geschieht die Weiterentwicklung des Sektors nicht in einer spezifischen Region, sondern dezentral.
Man denke hier nur an das Ethereum-Ökosystem und die Entwickler, die auf der ganzen Welt verteilt sitzen. Entsprechend muss, im geografischen Kontext, die Innovation nicht zwangsläufig aus der EU kommen. Vielmehr muss die EU einen Rechtsrahmen für die dezentralen Anwendungen und Wirtschaftsaktivitäten des Sektors bieten. Ob die EU diese Chance auch nutzt, steht auf einem anderen Blatt.