Wer sich überlegt, in einen Maschinenbauhersteller oder ein Chemieunternehmen aus dem DAX zu investieren, der kann sich gut an verschiedenen Bilanzkennzahlen und Kennziffern aus der Vergangenheit orientieren. Wie hoch waren beispielsweise die Gewinne der letzten Jahre, wie hoch sind die Verbindlichkeiten und mit welchem Wachstum ist in den nächsten Monaten zu rechnen?
Keine Bilanz, keine Bewertung?
Analysten können bei traditionellen Aktiengesellschaften durchaus gut einen Unternehmenswert bestimmen, der einem dabei hilft, einzuschätzen, ob eine Aktie teuer oder günstig bewertet ist. Auch besteht bei klassischen Industrieunternehmen ein klarer Bezug zu makroökonomischen Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das Zinsumfeld, welches dabei hilft, die Marktsituation einer Branche einzuordnen.
Je innovativer und weniger beständig das Geschäftsmodell, desto schwieriger wird in aller Regel die Bewertung eines Unternehmens. Als beispielsweise Facebook im Jahr 2012 an die Börse ging, haben sich viele Analysten die Zähne ausgebissen, eine präzise Unternehmensbewertung abzugeben.
Noch schwieriger als Tech-Unternehmen lassen sich Blockchain-Protokolle bewerten. Was ist die fundamental gerechtfertigte Bewertung für die Bitcoin Blockchain? Sollte der Bitcoin-Kurs bei 5.000 US-Dollar oder eher bei 500.000 US-Dollar liegen?
Kein Unternehmen, sondern Markt
Anstatt zu versuchen, Kryptowährungen wie Unternehmen zu bewerten, kann es helfen, eine Bewertung von “Marktgrößen” herzuleiten. Konkret stellt sich also die Frage, wie viele Milliarden oder Billionen US-Dollar ein Markt umfasst, in dem das entsprechende Protokoll bestehende Unternehmen oder Rohstoffe verdrängen kann.
Der wahrscheinlich am häufigsten referenzierte Markt bei Bitcoin ist der Goldmarkt. Je nach Berechnung umfasst dieser 9 bis 11 Billionen US-Dollar Marktkapitalisierung, ergo 12- bis 15-mal so viel wie die von Bitcoin. Da Bitcoin, genau wie Gold, als ein Wertspeicher fungiert, ist die Verlockung groß, potenzielle Bitcoin-Kurse abzuleiten.
Gerne wird davon ausgegangen, dass Bitcoin auf die gleiche Marktgröße kommen kann wie Gold. Daraus ergibt sich ein Bitcoin-Kurs in der Gegend von rund 500.000 US-Dollar. Manch einer vergleicht Bitcoin nicht nur mit Gold, sondern mit dem viel höher kapitalisierten Währungssektor und kommt so schnell auf Bitcoin-Kurse fernab der eine Million US-Dollar. Ein prominentes Beispiel für diesen Bewertungsansatz sind die Winklevoss-Brüder, die gleichzeitig auch die Krypto-Börse Gemini betreiben.
Äpfel und Birnen
Sicherlich lässt sich die funktionale Nähe von Bitcoin zum Edelmetall Gold nicht abstreiten. Als knappe Assets – hier wird gerne auf das beliebte Stock-to-Flow-Model verwiesen – versprechen sie Inflationsschutz in Zeiten expansiver Geldpolitik. Doch kann man deswegen Bitcoin mit dem Gold-Markt gleichsetzen? Wohl kaum.
Der Goldmarkt ist lediglich der nächstgelegene Ankerpunkt, nachdem sich die Menschen sehnen, um sich an irgendetwas klammern zu können. Er ist besser geeignet als andere Märkte, um Bitcoin eine potenzielle Marktgröße zu geben und daraus eine Bitcoin-Kursprognose abzuleiten.
Auf der anderen Seite hat das nicht zu bedeuten, dass es signifikante Unterschiede zwischen den beiden Wertspeichern gibt. Wenn auch nur zu rund 10 Prozent, wird Gold auch als Industriemetall verwendet. In vielen Kulturen spielt Gold eine kulturell wichtige Rolle, sei es bei Hochzeiten oder einfach nur, um seinen Wohlstand zu zeigen. Zusammen beanspruchen Industrie und Schmuck über 50 Prozent der Gold-Verwendung. Zwei Bereiche, die bei Bitcoin schlichtweg entfallen.
Es dreht sich nicht immer alles nur um Gold
Darüber hinaus ist Gold nicht das einzige Edelmetall, das zur Wertaufbewahrung geeignet ist. Auch Silber, Platin oder Palladium werden trotz ihrer größeren industriellen Nachfrage als Wertspeicher genutzt. Folglich müsste man auch überlegen, welche “Marktanteile” dieser physischen Investment-Metalle auf das digitale Gold namens Bitcoin übergehen. Umgekehrt müsste man die Frage anschließen, ob Bitcoin die gesamte Wertspeicher-Nachfrage aus dem Edelmetallsektor für sich einnehmen kann.
Was wäre beispielsweise mit Litecoin, dem kleinen Bruder von Bitcoin? Schließlich heftet Litecoin das Image des digitalen Silbers an, während Bitcoin den Goldstatus einnimmt – der Konstruktivismus lässt grüßen. Ohne die Bedeutung des digitalen Goldes schmälern zu wollen, sollte man sich dennoch bewusst machen, wie schwammig derartige Marktvergleiche sind.
Anwendungsfall DeFi
Bei Bitcoin wiederum können sich andere Anwendungsfelder ergeben als beim Gold. Bitcoin ist Smart-Contract-fähig, was bedeutet, dass Bitcoin für diverse Blockchain-Anwendungen genutzt werden kann. Gerne wird Bitcoin daher als Collateral (zu Deutsch Sicherheit) in dezentralen Finanzwendungen verwendet, wenn auch oftmals als ERC-20-Derivat.
Auf der anderen Seite kann man auch hergehen, und Gold tokenisieren. Physisches Gold, das in Form eines Token-Derivates abgebildet wird, könnte ebenfalls bei dezentralen Krypto-Krediten als Sicherheit Anwendung finden und Bitcoin-Funktionalitäten übernehmen. Ein entscheidender Unterschied bei Gold zu Bitcoin ist allerdings, dass die Smart-Contract-Fähigkeit ausschließlich in derivativer Form möglich ist und nicht mit dem Basiswert selbst, der physisch unflexibel in Tresoren lagert.
Trotz eines enormen Marktwachstums dezentraler Finanzanwendungen, ist gegenwärtig noch überhaupt nicht abzusehen, wohin sich der Markt bewegt und welche Rolle hier Bitcoin in Zukunft noch einnehmen wird. Folglich sind auch die Versuche, aus diesen Überlegungen eine fundamentale Bitcoin-Bewertung abzuleiten, zum Scheitern verurteilt.
Alles nur soziale Konstruktion
Es lassen sich noch viele derartige Überlegungen anstellen, wie Bitcoin Marktfeldern zugeordnet werden kann. Zu verlockend ist der Versuch, einen fairen und fundamentalen Kurs von Bitcoin aus den aufgeführten Gedankengängen abzuleiten. Auch der Versuch, technische Faktoren einfließen zu lassen – zum Beispiel Anzahl der Nodes oder Hashrate – rühren letztlich aus dem Bedürfnis nach einer rationalen Grundlage.
Dabei sollten wir nie vergessen, wie konstruktivistisch – im Sinne einer sozialen Konstruktion von Realitäten – und voreingenommen (biased) unser Bezug zu Wert im Allgemeinen und zu Euro, Bitcoin und Gold im Speziellen ist. Besonders gut zeigt sich das an den “Münz-Visualisierungen”.
Bitcoin-Münzen als Brückenbauer
Beispielsweise erhalten Jahresabonnenten von unserem Kryptokompass eine 24-Karat vergoldete “Bitcoin-Münze” – dies soll an dieser Stelle wirklich keine Werbung sein. Letztlich werden auf diese Art und Weise Realitäten geschaffen, die auf alten, konstruierten Realitäten aufbauen. Physische Münzen plus Gold gleich hoher Wert.
Wir denken in Bildern und suchen immer nach Ankerpunkten. Je digitaler sich unsere Ökonomie gestaltet, desto absurder und entfernter werden diese konstruierten Zusammenhänge. Im Versuch, Bitcoin und andere Kryptowährungen einzuordnen, laufen wir ständig Gefahr, Realitäten zu konstruieren, die sich jeder fundamentalen Grundlage entziehen.
Wenn wir also unsere Bitcoin mit Gold vergleichen und über exorbitante Marktkapitalisierungen träumen, die den Bitcoin-Kurs auf über 500.000 US-Dollar katapultieren, sollten wir uns immer der Gefahr bewusst sein, dass wir Opfer unserer eigenen Wunschvorstellungen werden können.
Korreliert der Bitcoin-Kurs mit seinen Narrativen?
Wie sehr ein Vermögenswert steigt oder fällt, hängt auch immer von der gesellschaftlich konstruierten Wahrnehmung ab. Vor allem sind es Narrative, die Menschen zu Investoren von Bitcoin, Tesla-Aktien oder Goldmünzen werden lassen. Sicherlich hat das Narrativ des digitalen Goldes dazu beigetragen, dass der Bitcoin-Kurs in den letzten Monaten so stark gestiegen ist. Wäre Bitcoin bei dem Narrativ der Darknet-Währung verblieben, dürfte der Kurs nicht da stehen, wo er aktuell steht. Erst diese Brücke hat viele Menschen dazu verleitet, den Sprung in die Krypto-Ökonomie zu wagen.
Welche Dynamiken aus solchen Narrativen erwachsen können, zeigt sich besonders eindrucksvoll bei der Wallstreetbets-Bewegung und der Kryptowährung Dogecoin, wie wir bereits ausführlich erläutert haben. Genau in solchen Momenten, wenn psychologisch getriebene Marktbewegungen entstehen, kann es hilfreich sein, sich selbst kritisch zu hinterfragen, warum man etwas einen Wert beimisst.