Der Bilanzskandal von noch DAX-Konzern Wirecard steht auch außerhalb der Börsenmedien im Mittelpunkt. Den meisten Menschen stellt sich die Frage, wie 1,9 Milliarden Euro einfach verschwunden sein können. Auf den philippinischen Bankkonten, wo diese laut Wirecard liegen sollten, sind sie jedenfalls nicht. Zum aktuellen Zeitpunkt kann man nur spekulieren, wie die kreative Buchführung nicht vorher aufgedeckt werden konnte.
Wirecard: Aus Mangel an Alternativen
Zu einer starken Volkswirtschaft gehören auch immer starke Finanzinstitutionen. Jahrelang waren das in erster Linie die Banken. Gerade in den 90er und ersten 2000er Jahren allen voran die Deutsche Bank, die mit Josef Ackermann dem Land Deutschland auf dem internationalen Finanzparkett ein starkes Selbstbewusstsein verliehen hat.
Seit der Finanzkrise 2008 ist von dieser Pole Position nichts mehr zu spüren. Die deutschen Banken sind nur noch ein Schatten ihrer selbst und international, insbesondere von den amerikanischen Banken, vollkommen abgehängt. Gleichzeitig sind die großen Internetplattform in den USA und China entstanden, nicht aber in Europa und Deutschland. In diesem Umfeld hat sich ein Vakuum gebildet, das von Wirecard in Deutschland ausgefüllt wurde. Wirecard wurde zum einzigen milliardenschweren Finanzdienstleister Deutschlands, der einen Platz in der Internetökonomie finden konnte. Wenn man also schon nicht den Kuchen haben kann, dann zumindest die Krümel. Diese Sichtweise würde erklären, warum viele deutsche Anleger aus Mangel an Alternativen sich so lange an Wirecard geklammert haben.
Der Mittelsmann, den niemand will, aber jeder braucht
Wirecard hat sich zur Bezahlschnittstelle im Internet gemausert. Das Unternehmen verdient sein Geld im bargeldlosen Zahlungsverkehr. So streicht der Konzern eine Provision ein, wenn er Geld vom Endkunden zum Anbieter weiterleitet. Das gilt vom kleinen Einzelhändler bis hin zu anderen großen DAX-Konzernen, die die Dienste von Wirecard in Anspruch nehmen.
Von dem Mittelsmann Wirecard hängen so laut Unternehmensseite (noch) über 313.000 Kunden ab. Eine gefährliche Abhängigkeit, auch wenn es Konkurrenzunternehmen, wie Square oder Wordline gibt, die vergleichbare Dienstleistungen anbieten.
Auch Krypto-Start-ups bleiben nicht verschont
Wozu eine solche Abhängigkeit führen kann, hatte man an dem Dienstleister WaveCrest aus Gibraltar erlebt. Dieser hatte unter anderem Kreditkarten für Krypto-Start-ups herausgegeben. Als der Dienstleister 2018 seine VISA-Lizenz verloren hatte, standen die Bitcoin-Kreditkarten unter anderem von TenX und Bitwala vor dem aus. Es hatte sehr lange gedauert, bis die Krypto-Unternehmen neue Dienstleister finden konnten, über die sie heute ihre Karten herausgeben.
Bei TenX hat man Anfang 2020 WaveCrest durch Wirecard ersetzt. Zwar ist vorerst die Kartenversorgung von TenX sichergestellt, dennoch holt der Wirecard-Skandal wieder alte Ängste hervor. Schließlich ist es gerade für Krypto-Dienstleister oft nicht leicht, einen lizenzierten Kooperationspartner für regulierte Geschäfte zu finden. Gleiches gilt auch für das „Krypto-Karten-Start-up“ Crypto.com, das ebenfalls Kunde von Wirecard ist. Bitwala hingegen ist durch die Kooperation mit der solarisBank aus dem Schneider und ist nicht auf den Dienstleister Wirecard angewiesen, um seine Mastercard herauszugeben.
Vertrauen ist gut, Blockchain ist besser
Wirecard offenbart dabei viel mehr als nur missglückte Regulierung. Es zeigt auch ein Infrastrukturproblem, das wir in der Finanzwirtschaft haben. Unsere digitale Wertschöpfung hängt noch zu sehr von veralteter Infrastruktur und intransparenten Mittelsmännern – siehe Wirecard selbst – ab. Die Abwicklung im Hintergrund ist dabei nicht so digital, transparent und effizient wie sich das Frontend der Onlineseiten präsentiert. Mehr denn je zeigt der Vorfall die Notwendigkeit, unsere Finanzinfrastruktur auf das nächste Level upzudaten, damit sich solche Vorfälle nicht mehr wiederholen können.
Der IT- und Blockchain-Experte Peter Großkopf, Geschäftsführer und CTO der Börse Stuttgart Digital Exchange GmbH (BSDEX), konnte sich in den sozialen Medien den Hinweis nicht verkneifen, dass die Anwendung dezentraler Infrastrukturen hätte helfen können, den Wirecard-Skandal zu verhindern. So heißt es in einem Social-Media-Post von ihm (der englische Originaltext wurde von uns ins Deutsche übersetzt):
Der Wirecard-Fall (1,9 Milliarden Euro, die nicht auf Treuhandkonten zu finden sind) würde auf einer offenen, #dezentralen, permissionless, #DLT / #Blockchain-basierten Finanzdienstleistungsinfrastruktur, die pseudonyme Konten öffentlich zugänglich macht und externe, unabhängige Prüfer ermöglicht, nicht unbemerkt passieren. Man könnte sogar eine teilweise automatisierte Rechnungsprüfung aufbauen, wie zum Beispiel Robo-Audits. Lasst uns weiter an einer stärker dezentralisierten Bankeninfrastruktur und Zukunft arbeiten.
Geschäftsmodell mit Zukunft?
Wenn in den nächsten Monaten und Jahren neue Finanzinfrastrukturen und Payment-Kanäle entstehen, stellt sich ganz grundsätzlich die Frage, ob es Wirecard in dem heutigen Maße überhaupt braucht beziehungsweise, ob der Konzern es schaffen würde, sich auf die neue Wertschöpfung im Finanzsektor einzustellen.
Mit Einführung tokenbasierter Finanzinfrastrukturen wie den digitalen Zentralbankwährungen oder der Zahlungsnetzwerkinitiative von Facebook, der Libra Association, werden viele Mittelsmänner auf den Prüfstand gestellt. Nicht jeden Mittelsmann und jede Dienstleistung wird man dann noch in Zukunft brauchen.
Selbst wenn Wirecard den Skandal überleben würde, müssten sich Wirecard-Aktionäre und Anhänger die Frage stellen, ob sie nicht einer falschen Hoffnung hinterhergelaufen sind. Die Umwälzungen, insbesondere durch die Blockchain-Technologie, werden in dieser Dekade derartig gravierend sein, dass man unmöglich sagen kann, welcher Finanzdienstleister überleben und gegebenenfalls deutlich wachsen wird und welcher nicht.
Wenn aus einer „mündelsicheren Anleihe“ ein Schrottpapier wird
Losgelöst von der grundsätzlichen Zukunftsfähigkeit des aktuellen Geschäftsmodells, sprechen die aktuellen Finanzkennziffern des Konzerns eine katastrophale Sprache. Nicht nur lässt sich dies am Aktienkurs ablesen. Dieser ist in einer Woche um rund 98 Prozent eingebrochen. Auch der Kurs der Wirecard-Anleihe deutet auf einen Ausfall hin. Diese notiert nur bei rund 18 Prozent ihres Nominalwertes. Die Ausfallwahrscheinlichkeit wird vereinfacht gesagt damit auf 82 Prozent geschätzt. Der Wirecard-Vorstand hat bereits bekanntgegeben, dass er am Amtsgericht München einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens einreicht.
Anleihen von DAX-Unternehmen gelten grundsätzlich als absolut sicher und sind Portfolio-Bestandteil der konservativsten Fonds, die nur in absolut sichere Anlagen investieren dürfen. Sollte es zu einem Ausfall kommen, dann wäre dies für sehr viele Anleger und Vermögensverwalter ein sehr unvorhersehbares Ereignis.
Learning: Abhaken und auf wirkliche Innovation setzen
Mit der Blockchain-Technologie haben wir die Chance ein neues Bild vom Finanzstandort Deutschland zu entwerfen. Von einem offenen, dezentralen, transparenten und diverseren, das Schluss macht mit den Rechtsstreitigkeiten einer Deutschen Bank und Wirecard. Der Ball liegt hier mehr denn je im Feld der Regierungen und öffentlichen Institutionen. Die Forderungsliste der Blockchain-Unternehmen ist lang und dringlich. Angefangen von Gesetzesänderungen für digitale Wertpapiere bis hin zu einem digitalen Euro. Ohne diese regulatorischen Anpassungen für digitale Infrastrukturen, können auch die innovativsten Finanz-Unternehmen dem Niedergang des Finanzstandortes Deutschland nichts entgegensetzen.